Eine Phoenix-Verdienstmedallie wird St. Pierre wohl nicht erhalten. Nachdem der Mt. Pelée mit einer Explosion 1902 die alte Inselhauptstadt ausgelöscht hatte, wurde das „Paris der Karibik“ als ein morbides Fischerstädtchen bedeutend kleiner neugeboren. Wir ankern unter den von Urwald bedeckten Klippen und einem wohligen Mischmasch aus alten und neuen Ruinen sowie den aktuellen bunten karibischen Häusern. Zum ersten Mal haben wir den Eindruck, so richtig auf Reisen zu sein.
Nach den überstandenen Angelabenteuern in der Anse d’Arlet machen wir uns auf den Weg nach St. Pierre, der letzten größeren Siedlung an der Nordwestküste Martiniques.
Der Kurs führt an der sehr tief eingezogenen Bucht von Fort de France entlang und der atlantische Wind hat Platz. Die Bucht wirkt dazu wie eine Düse und wir rasen mit bis zu 9,2 Knoten bei fast 30 Knoten Wind über die karibischen Wellen. Da wir frühzeitig ins erste Reff gegangen sind, ist das Segeln eine wahre Wonne und wir erreichen in kurzer Zeit unseren recht anspruchsvollen Ankerplatz.
Der Ausbruch hatte nicht nur die Stadt zerstört und – bis auf einen Gefangenen in einer besonders solide gebauten Zelle – praktisch alle Einwohner getötet. Alle Schiffe, die vor dem Ort vor Anker lagen, fielen ebenfalls dem Berg zum Opfer. Nun liegen sie als Wracks im guten Grund und zwingen uns, das Geschirr näher an der Küste zu werfen. Der Boden fällt hier sehr steil ab, so dass wir nah an die Brandungszone müssen und verhältnismäßig viel Kette stecken. Nur so verhindern wir, dass Alytes sich beim ersten lauen Lüftchen ungewollt auf den Weg macht.
Die Szenerie ist atemberaubend schön. Im Norden erhebt sich der Mt. Pelée mit seinen von tiefen Furchen durchzogenen Flanken. Er ist längst wieder stark mit Wald und Grün bewachsen, doch die Zeichen, die die Eruption in die Hänge gerissen hat sind noch gut sichtbar. Auf uns macht er den Eindruck eines schlecht gelaunten Gesellen, obwohl er keinen Laut von sich gibt. Hohe Klippen ziehen sich von dort bis zum südlichen Ende der Bucht. Zwischen Klippen und Meer zwängen sich die Reste von St. Pierre.
Von Bord aus gesehen drängen sich zwischen den alten Ruinen und der restaurierten großen Kirche die neuen Gebäude. Einige schon wieder zu Ruinen verfallen, andere frisch und bunt renoviert oder gar neu gebaut. Das Grün der Klippen gibt zusammen mit dem grauschwarz der Ruinen und den bunten Farben der neueren Gebäude eine seltsam schöne Mischung.
Zwar haben wir St. Pierre schon vor drei Jahren besucht, doch die Anfahrt von See aus ist dann nochmals etwas anders. Wir haben zudem mehr Zeit mitgebracht und sind daher nicht mit dem Bewusstsein von Touristen unterwegs. Anders als im Süden sehen wir hier praktisch keine weißen Gesichter mehr. Und statt des meist tadellosen „Metro-Francais“ klingt hier ein breites Patois durch die Straßen. Mal leise, mal eher laut, von dem einen oder anderen Geisteskranken geschrien. In St. Pierre finden sich ein vergleichsweise großes Altenheim und irgendwo wohl auch eine Anstalt. Nun ja, anders können wir uns die „Looney-Dichte“ hier nicht so recht erklären.
Die Stadt besteht im Grunde aus zwei parallel verlaufenden Einbahnstraßen. Dazwischen Treppchen und Querstraßen. Immer wieder die Ruinen der eher stabilen öffentlichen Häuser (Theater, Kirche, Gefängnis). Und dazwischen die neue Siedlung.
Wir lassen uns treiben, vom Stand bis zu den Klippen, von Nord nach Süd. Ein schönen Markt haben sie hier und am Samstag machen wir einen „Explorativeinkauf“ um neue Obst- und Gemüsesorten kennenzulernen. Unser aktueller Favorit ist die Christophine. Gut als geriebener Salat oder auch als gekochtes Gemüse zu essen.
Wir machen ein paar Tauchgänge mit Papa d’Lo klar. Zusammen mit Rob und Jen von der Sephina entlang eines Riffs, später mit Heide zu den tiefen (39 m) und nicht so tiefen (10 m) Wracks. Die Wracks sind schon stark verfallen und überwuchert, aber die hier entstandenen Riffe sind tatsächlich schön und fischreich. Selten haben wir so große Schwämme gesehen wie hier. Die Tauchgänge beleben unsere alten Fähigkeiten wieder, so dass wir uns für die nächsten tiefen Tauchgänge auch allein gut vorbereitet fühlen. Ach, und Feuerfische gibt es hier auch in rauen Mengen. Die Leute hier jagen und essen sie, aber es scheint noch nicht zu reichen. Ich darf mich aber vorläufig nicht anbieten, sagt Heide…
Zum ersten mal fühlen wir uns hier so richtig auf Reisen. Nicht in Europa (obwohl wir es politisch ja noch sind) sondern einfach mal richtig weg. Ein wenig schade, dass wir fünf Monate und damit fast ein viertel unserer Reisezeit dafür gebraucht haben. Aber auf der anderen Seite steht die Aussicht, dass wir noch weitere 18 Monate auf ähnlich fremden Pfaden unterwegs sein werden.
Buch: Die letzten Tage Europas, Henryk Broder, The Windup Girl, Paolo Bacigalupi
Musik: Nouvell Vague
Ihr lest Broder in Martinique??? kein Wunder, dass ihr 5 Monate braucht, um euch frei zu schwimmen..;)
Sehr gut gefällt mir „Explorativeinkaufen“. Das sollte man öfter machen…
Hmm, will mal möglichst alle sinnhaltigen Perspektiven auf Europa wahrnehmen.
Broder, dachte ich, wäre eine davon. Aber vom Henryk kann man sich wohl kaum vom Schwimmen abhalten lassen. Seltsame Stammtisch-Prosa:
Sicher in Teilen des Kerns immer mal wieder richtig analysiert. Ansonsten klassisches Geschwurbel wenig tiefgehender Journalisten: Man freut sich, dass man ein Missstand entdeckt hat (in Teilen oder im Ganzen), man freut sich, dass man ihn unterhaltsam und scharfzüngig beschreiben kann. Und dann? Keine Idee, noch nicht mal ein Denkansatz außer: „Lasst uns mal Pause machen“.
Dazwischen leider auch Denkfehler wie dieser: Auf der einen Seite große Kritik daran, dass es nun eine weitere administrativ-politische Ebene gäbe (machtlos wie das EU-Parlament aber angeblich undemokratisch wie die Kommission). Dabei vergisst er, dass die Kommisssion praktisch keine eigenen Initiativen einbringt (einbringen kann). Die kommen alle von demokratisch gewählten Staatsoberhäuptern der EU-Mitgliedsstaaten und die Kommission muss sie in EU-Gesetzgebung gießen. Dann die ewige „Schmidt wer Visionen hat soll zum Arzt gehen“ Leier (hat Schmidt selbst schon zurückgenommen, das Zitat) etc. etc. etc.
Der einzige relevante Punkt, bei dem ich mitgehen kann ist die Tatsache, dass die notwendige Reform der europäischen Institutionen kaum allein von innen gelingen kann. Dass solche Organisationen zu viel Selbsterhaltungstrieb haben.
Das ist bei deutschen Unternehmen (inklusive dem Spiegel-Verlag) nicht anders. Ist aber zu wenig für so ein Buch.
Na ja. Wenn man sich ein wenig mit etwas zu seichter Europakritik aufmunitionieren will, eine gute Basis. Und auch eine Grundlage für das Verständnis vieler – mehr oder weniger reflektierter – Europagegner (damit meine ich sowohl Gegner einer „größeren Idee“ wie auch des Status quo).